TirThuatha

 

Stolpersteine

Das kleine Feuer im Kamin vertrieb nur mühsam die Kälte, die die Steinmauern der kleinen Kammer ausstrahlten. Gwyddor hüllte sich tiefer in seine warmen Felle und schlürfte heißen Met. Er mußte sich erst einmal wieder an das rauhe Klima gewöhnen. Vor einigen Wochen noch auf Huanaca, kam er jetzt mitten in den ersten Schneestürmen wieder in die Heimat zurück.
Nach schweren Kämpfen wurden auf Huanaca die Truppen der Legion von den Agenirern vernichtet. Eine gigantische Streitmacht versammelte sich auf der Hochebene, welche auch die Ebene der Wächter genannt wurde, zum Sturm auf die Pyramide. Gwyddor hatte beschlossen, diese Aufgabe in die Hände seines Vertreters zu legen und in seinem Stammkönigreich nach dem Rechten zu sehen.
Tanira hatte während seiner Abwesenheit ihre Aufgabe großartig gelöst und Tir Nemedhainn mit einer kleinen Reiterschar praktisch ohne Gegenwehr besetzt. Nun organisierte sie dort die Verwaltung neu, um den notwendigen Nachschub für das Heer zu beschaffen. Auch schienen die Besitztümer der Einwohner keinen nennenswerten Schaden genommen zu haben. Die Residenzen der ausländischen Diplomaten hatte sie, wie befohlen, völlig unangetastet gelassen.
Aus dem Norden jedoch zogen düstere Wolken heran. Der neue Stammkönig der Danannain schien sich nicht mit Halbheiten zufrieden zu geben. Zuerst die Kriegserklärung an die Bolghainn, und dann das. Düster starrte Gwyddor auf den Bericht, der auf seinen Knien lag. Der Schreckwinter war noch nicht einmal zwei Jahre her, und gerade die Danannain hatten fürchterliches erdulden müssen. Möglicherweise war der alte Stammkönig Calangor auch deswegen geopfert worden. Calangors Nachfolger schien nun tatsächlich ein Auge auf Tir Laghainn und möglicherweise auch auf Tir Cladhainn geworfen zu haben. Jedenfalls konnte Twrch Trwyth kaum die erforderliche Anzahl an Kriegern haben, um ein solches Unternehmen alleine durchzuführen. Hatte er Verbündete? Söldner aus dem Ausland paßten wenig zur Mentalität der Eisklötze. Gerade Skaramund sollte sich solchen Plänen heftigst widersetzen, war er doch damals im Krye-Konflikt beinahe selbst Opfer von fremden Truppen geworden. Oder war Twrchs Plan zum Marsch gegen Tir Cladhainn eine Finte, - war der Stammkönig der Cladhainn, Draywydh ra Lamanor, am Ende gar nicht das nächste Opfer? War es möglich, daß eigentlich Tir Laghainn aufgeteilt werden sollte?
Die Ausrufung der Dwyllugnach hatte Gwyddor zunächst belustigt. Er bezweifelte, daß es außer ein paar Druiden noch Menschen gab, die mehr darüber wußten als den Namen. Und ausgerechnet dieser düstere Haudegen wollte Maithachs Kunstprodukt wieder aufleben lassen. Angesichts der Eroberungspläne war aber nicht mehr auszuschließen, daß Twrch seinen eigenen Staat gründen wollte. Die Nahrung in seinem Stammkönigreich waren knapp und er würde dann dringend die fruchtbaren Ebenen Tir Laghainns benötigen. Es paßte zumindest zusammen. Dieser Staat bedeutete aber die Teilung des Landes. Dies würde Gwyddor auf keinen Fall zulassen. Er wollte Twrch eine Masse Stolpersteine in den Weg legen.
Jeder Schritt aber wollte sorgfältig überlegt sein.
Mit seinem Bolghainn-Heer wollte er auf keinen Fall nach Tir Laghainn einmarschieren. Die Besetzung Tir Nemedhainns hatte schon einiges an Mißstimmung bei den anderen Stammkönigen erzeugt, da wollte er jetzt nicht noch etwas draufsetzen.
War es klug, Reichstruppen einzusetzen, die er als Feldherr von Tir Thuatha befehligte? Da mußte er aber vorher Gewißheit über die Pläne Twrchs haben, sonst würde Garwydd Siber ihn in die Wüste schicken. Hm, wenn Twrch losschlagen würde, dann bald. Es blieb keine Zeit mehr für langwierige Erkundungen.
Warum eigentlich einmarschieren? Man könnte doch - Ja, das könnte gehen... ein breites Grinsen überzog Gwyddors Gesicht.
Fieberhaft ging er die Standorte der Truppenkontingente durch, über die er als Feldherr von Tir Thuatha verfügen konnte. Die neu rekrutierten Truppen befanden sich noch in den Stammkönigreichen. Weitere Kontingente waren im Süden von Tir Laghainn sowie bei Dhanndhcaer stationiert. Gwyddor dankte Misc, daß er die strikte Trennung der Einheiten nach Stammkönigreichen, die Albatanor immer praktiziert hatte, beibehalten hatte. Das machte seinen Plan überhaupt erst durchführbar.
Die wenigen Danannain-Einheiten, die er noch hatte, bekamen sofortigen Marschbefehl nach Huanaca.
Die Kontingente aus Tir Laghainn und Tir Nemedhainn wurden nach Kerrcaer beordert, um die Abwehr eines Invasors zu üben, der in Tir Danannain gelandet war. Wenn Thurianator aus Tir Laghainn noch seine eigenen Truppen ins Spiel brachte, sollte das eigentlich für alles reichen, was Twrch und möglicherweise Draywydh je in die Waagschale werfen konnten.
Die Cladhainn- und Bolghainn-Kontigente würden die Sicherung des Kessels von Caswallon übernehmen. Dieser Teil bereitete Gwyddor die größten Kopfzerbrechen. Wenn Draywydh sich an die Seite Twrchs stellte, könnte es passieren, daß er diese Truppen aus dem Reichsheer lösen wollte. Nein, das würde er nicht tun. Das wäre offene Rebellion, die ihn den Kopf kosten würde.
Trotzdem, Tir Cladhainn blieb ein Unsicherheitsfaktor. Das Stammkönigreich wirkte seit langem desorganisiert, Draywydh schien überhaupt keine Kontrolle mehr über seine Leute zu haben. Mit einem entschlossenen Vorstoß könnte man dort wahrscheinlich alles geschenkt bekommen. Gwyddor jedoch konnte dort nichts ausrichten, weil die Auseinandersetzungen des letzten Jahres ein tiefes Mißtrauen erzeugt hatten.
Wen würde er denn dort hinschicken können? Natürlich. Cwmachdod. Hm, das könnte aber sehr heikel werden.
Gwyddor war eigentlich immer glücklich darüber, wie sich dieser merkwürdige Haufen behauptet hatte. Thuatha, die sich als Clanther oder Clanthonier verstanden. Jedenfalls sicherten sie erfolgreich den lebenswichtigen Paß in den Süden, den Frühlingspfad, wie sie ihn nannten.
Sollte Gwyddor sich wirklich dem Vorwurf aussetzen, Fremdvölker ins Spiel zu bringen? Cwmachdods Leute selbst sahen sich als Clanthonier. Andererseits hatte Cwmachdod Siber den Treueeid geschworen.
Also, Gwyddor würde Cwmachdod bitten, in Cladhainn nach dem Rechten zu sehen. Sollte Draywydh dort noch die Kontrolle ausüben, so wäre die Mission beendet, und Gwyddor müßte allem rechnen. Sollte jedoch das Stammkönigreich verwaist sein, so könnte Cwmachdod Cascaer übernehmen und die Ordnung wieder herstellen.
Gleichzeitig würde Gwyddor seine eigenen Reiter bereithalten. Wenn Twrch tatsächlich dieses irrwitzige Unternehmen starten würde und in Tir Laghainn einmarschierte, wäre sein eigenes Reich entblößt. Und Rhyallis im Herzen Danannains würde den Bolghainn wie ein reifer Apfel in den Schoß fallen. Möglicherweise sogar Gwallcaer...

© Jörg Strobel
Frankfurt, Dezember 2000